Blutkrebs: Tödliche Gefahr oder Krankheit mit Perspektive?
In Deutschland erkranken derzeit rund 18.000 Frauen und Mädchen sowie rund 22.000 Männer und Jungen in Deutschland neu an Blut- oder Lymphdrüsenkrebs. Trotz großen Erfolgen in der Forschung überleben etwa ein Drittel aller Patienten die ersten fünf Jahre nach der Diagnose nicht.
Im CancerSurvivor-Experteninterview berichtet Professor Dr. Carsten Müller-Tidow über den aktuellen Kampf gegen Blutkrebs und zukünftige, therapeutische Möglichkeiten.
Prof. Müller-Tidow ist ärztlicher Direktor der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Rheumatologie am Universitätsklinikum Heidelberg und Mitglied des erweiterten Direktorium des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT).
Die klinischen Schwerpunkte von Prof. Müller-Tidow sind Akute Leukämien, MDS, Stammzelltransplantation, Lymphome und das Multiple Myelom. In der Therapie ist er spezialisiert auf die Transplantation von Knochenmark bzw. Blutstammzellen.
Wir fragen – Experten antworten
Was passiert bei einer Blutkrebs-Erkrankung?
Carsten Müller-Tidow:
Blutkrebs ist nicht nur eine Krankheit, sondern der Oberbegriff für verschiedene Krankheiten der Blutzellen. Gemeinsam haben diese Erkrankungen, dass sich Blutzellen im Knochenmark verändern und anschließend unkontrolliert vermehren. Die meisten Blutkrebsarten werden auch als Leukämie bezeichnet.
Leukämien entstehen bei der Blutbildung im Knochenmark. Bei einer frühen Blutzelle tritt ein Fehler in der Erbinformation auf und die Zelle reift nicht richtig weiter. Unreife, noch funktionsuntüchtige Blutzellen heißen Blasten. Und wenn sich diese verändern, teilen sie sich im Körper unkontrolliert weiter und verdrängen dann gesunde Zellen. Je nachdem welche Blutzellen von diesem Defekt betroffen sind, unterscheidet man zwischen lymphatischen und myeloischen Leukämien. Lymphatische Leukämien entstehen, wenn bestimmte weiße Blutkörperchen (Lymphozyten) in der Entstehungsphase entarten. Myeloische Leukämien haben ihren Ursprung in der Fehlbildung von myeloischen Zellen. Dazu gehören rote Blutkörperchen, Blutplättchen und die meisten Arten der weißen Blutkörperchen mit Ausnahme der zuvor genannten Lymphozyten.
Weiterhin werden Leukämien nach Art des Verlaufs unterteilt: akut oder chronisch. Akute Leukämien treten sehr plötzlich auf und gehen mit starken Symptomen einher, die sich innerhalb weniger Tage oder Wochen verschlechtern können. Chronische Leukämien verlaufen schleichend und werden oft lange Zeit nicht bemerkt. Da Blutzellen sich sehr frei im Körper bewegen und verteilen können, muss bei Leukämien meistens der ganze Körper, systemisch, behandelt werden.
Welche Ursachen gibt es für Blutkrebs?
Carsten Müller-Tidow:
Leider können wir noch nicht eindeutig bestimmen, woher Blutkrebs kommt. Oft haben wir den Verdacht, dass sich die ersten fehlentwickelten Zellen bei den meisten Betroffenen zufällig bilden. Blutkrebs kann daher jede Person treffen. Dennoch wissen wir heute, dass bestimmte chemische Stoffe Blutkrebs auslösen können. Dazu zählen Insektenbekämpfungsmittel, Pflanzenschutzmittel, Benzol, Lacke, Pestizide und auch medizinische Behandlungen. Aber auch Chemo- und Bestrahlungstherapien können Leukämien zur Folge haben. In manchen Fällen ist die Leukämie auch erblich und Betroffene haben weitere Familienangehörige, die auch an einer Leukämie erkrankt sind. Ein gesunder Lebensstil scheint insgesamt nur einen geringen Einfluss auf die Vorbeugung einer möglichen Leukämie zu haben. Das Alter spielt beim Risiko an einer Leukämie zu erkranken eine große Rolle. Je älter man wird, desto anfälliger wir man auch für eine mögliche Leukämie.
Kann eine Blutkrebs-Erkrankung auch erblich bedingt sein?
Carsten Müller-Tidow:
Glücklicherweise sind die allermeisten Blutkrebserkrankungen nicht erblich. Das heißt, es besteht kein oder nur ein sehr geringes Risiko, dass auch nahe Angehörige erkranken. Allerdings kommen selten Häufungen in Familien vor. In solchen Fällen untersuchen wir dann genau, ob es eine erbliche Ursache gibt.
Wie wird Blutkrebs heute behandelt?
Carsten Müller-Tidow:
Akute und chronische Leukämien werden unterschiedlich behandelt. In der Regel ist eine Chemotherapie der Mittelpunkt der Behandlung von akuten Leukämien. Die zellwachstumshemmenden Medikamente (Zytostatika) wirken auf Zellen im ganzen Körper. Damit wollen wir die Leukämiezellen vollständig zerstören oder möglichst weitgehend zurückzudrängen. Die Chemotherapie kann bei den chronischen Leukämien mit einer Antikörper-Therapie ergänzen werden. Teilweise erfolgt auch eine Therapie mit kleinen Molekülen, die den Stoffwechsel der Tumorzelle beeinflussen. Chemotherapien und Stammzellentransplantationen erfolgen mittels Infusionen und Tabletten. In den letzten Jahren sind aber viele neue Behandlungsmöglichkeiten dazugekommen, die oft mit wenig Nebenwirkungen Erstaunliches bewirken können. So kommen neueste Forschungsergebnisse direkt unseren Patientinnen und Patienten zugute.
Was ist eine Stammzelltherapie?
Carsten Müller-Tidow:
Bei der Stammzelltherapie oder auch Stammzelltransplantation werden dem Körper des Patienten über das Blut gesunde Stammzellen zugeführt, die sich dann im Knochenmark ansiedeln und „frische“ Blutzellen bilden. Dies geschieht unmittelbar im Anschluss an eine hochdosierte Chemotherapie. Hierbei werden die Stammzellen im Knochenmark des Empfängers, die normalerweise die verschiedenen Blutzellen herstellen, vollständig oder weitgehend zerstört. Bei der Stammzelltransplantation mit eigenen Stammzellen ist die Hochdosistherapie gegen Krebszellen ist das wirksamste Element der Therapie. Bei der Transplantation mit Stammzellen verwandter oder unverwandter Spender ist es vor allem das neue Abwehrsystem, das nach erfolgter Transplantation gegen die Leukämiezellen angeht.
Bei einer Stammzelltransplantation ist keine Operation notwendig. Über einen Tropf leiten wir wie bei einer Bluttransfusion die Stammzellen in den Körper des Patienten. Dann finden die Stammzellen den Weg in das Knochenmark des Patienten und bilden wieder Blut – ein Leben lang.
Welche Innovationen bei der Behandlung von Blutkrebs gibt es?
Carsten Müller-Tidow:
In unserer Klinik ist es uns gelungen, die Zelltherapie als Teil der Gen- und Immuntherapie weiterzuentwickeln. Wir statten gesunde weiße Blutkörperchen bildlich gesehen mit Greifarmen aus, mit denen sie die bösartigen weißen Blutkörperchen erkennen und unschädlich machen. Sie passen wie Schlüssel und Schloss zusammen. Andere, gesunde Zellen werden nicht angegriffen werden. Dieses Verfahren wenden wir inzwischen routinemäßig an. Diese sogenannte „CAR-T-Zelltherapie“ wollen noch weiter verbessern. Wir hoffen, bald einen Mechanismus zu finden, um noch mehr Patienten heilen zu können. Dabei programmieren wir gentechnisch veränderte Zellen aus dem Körper der Erkrankten auf die Zerstörung von Krebszellen. In Heidelberg wurde gerade der 100. Patient seit 2018 mit der CAR-T-Zelltherapie behandelt. Für uns ein wichtiger Meilenstein in der Weiterentwicklung dieser Therapie.
Ein weiterer vielversprechender Ansatz sind sogenannte Checkpoint-Inhibitoren. Diese Medikamente befinden sich noch in Studienphasen. Sie lösen ebenfalls eine Immunreaktion des Körpers gegen die Leukämiezellen aus und werden derzeit für unterschiedliche Krebsformen erforscht.
Wie gut können Leukämie-Patienten geheilt werden?
Carsten Müller-Tidow:
Die Heilungschancen von Blutkrebs werden immer besser. Durch moderne Therapien ist die Lebenserwartung der Patienten mit Blutkrebs in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Dennoch hängen die Chancen für eine Heilung von vielen Parametern ab und sind individuell unterschiedlich. Einflussfaktoren hängen vom Fortschreiten der Erkrankung bei der Diagnose, dem Alter, Vorerkrankungen und dem Erfolg der angewandten Therapie ab. Im Allgemeinen gilt: Je jünger die Erkrankten sind und je früher die Leukämie entdeckt wird, desto besser sind die Prognosen.
Früher konnte die chronisch myeloische Leukämie (CML) nur durch eine Stammzelltransplantation geheilt werden. Heutzutage kann sie sehr gut mit einer Tablettentherapie mit sogenannten Tyrosinkinasehemmern behandelt werden. Diese Therapie ist relativ gut verträglich und bei manchen Patienten konnten wir nach einigen Jahren bereits die Therapie absetzen, ohne dass es zu einem erneuten Auftreten der Erkrankung gekommen ist.
Es ist für mich als Arzt sehr schön, zu erleben, wie heute viele und bei manchen Leukämieformen die große Mehrzahl der Patientinnen und Patienten mit modernen Therapien ein weitgehend normales Leben führen kann. Und – durch die aktive Forschung erwarte ich, dass es in den nächsten Jahren weiter besser werden wird.
Corona ist immernoch ein Thema, das unseren Alltag bestimmt. Wie haben Sie sich mit der Erforschung des Virus und der Suche nach wirksamen Therapien für Ihre Patienten auseinandergesetzt?
Carsten Müller-Tidow:
Im März 2020 startete die Heidelberger RECOVER-Studie In ihr untersuchen wir die Wirksamkeit von einer Plasmatherapie mit Geimpften oder Genesenen Spender-Plasma. Die Studie wendet sich an Patienten, die an Corona erkrankt sind und bei denen sich schwerer Verlauf durch einen niedrigen Sauerstoffgehalt im Blut und Vorerkrankungen, Immunsuppression oder Krebstherapie abzeichnet. Unsere Vermutung ist, dass diese Patienten mit Hilfe des Spenderplasmas die Corona-Erkrankung besser überstehen. Gemeinsam mit 15 weiteren Zentren in ganz Deutschland arbeiten wir an der Durchführung der Studie. Wir haben alle Infos auf auf der unserer Webseite zusammengetragen.
Wer mehr über das Thema Blutkrebs erfahren möchte, dem können wir die Webseite von AbbVie Care Blutkrebs: Erkrankungen des blutbildenden Systems empfehlen. Hier wird über die drei Hauptformen aufgeklärt, auf Früherkennung eingegangen und Risikofaktoren benannt. Die beiden häufigsten Formen der Leukämie (AML und CLL) werden anschaulich in einem Video erklärt.
Awareness-Monat
Blutkrebs
Dieser Artikel ist ein Beitrag aus der Serie des Awareness-Monats „Blutkrebs“. Weitere spannende Interviews, Artikel und Talk-Sendungen finden Sie in der Übersicht zum Blutkrebs-Monat.
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