Leukämie: Familie im Ausnahmezustand
Als im Jahr 2015 bei Monika Cramer plötzlich die Diagnose akute lymphatische Leukämie (ALL) gestellt wurde, brachen für die Familie alle bis dahin gelebten und etablierten Strukturen zusammen. Von einem Moment auf den nächsten musste sie zusammen mit Ehemann Andreas Entscheidungen treffen: Wie sollen die drei Kinder in die neue Situation mit einbezogen werden? Wie kommuniziert man die Leukämie im Umfeld und welche Veränderungen wird im Beruf und Alltag der Familie geben?
So wie bei Monika und Andreas sind diese und viele andere Fragestellungen nicht nur Sache des Krebserkrankten, sondern auch des Partners und der Familie.
Im Interview mit Andreas Cramer erfahren Sie, wie er als Ehemann mit der neuen Wirklichkeit und den vielen Veränderungen auf organisatorischer und emotionaler Ebene umgegangen ist. Im Gespräch mit ihm wird klar, wie sehr Angehörige ebenfalls betroffenen sind und wie herausfordernd das Jahr während Monikas Therapie für die Familie war.
Wie hast Du als Ehemann und Arzt die Diagnose an Deine Frau übergeben?
Andreas Cramer:
Ich bin nach Hause gekommen und meine Frau stand über den Töpfen, sie war dabei, das Wochenende vorzubereiten, und sie hatte eine Vorahnung. Sie wusste, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmt, und als ich reinkam, habe ich ihr das gesagt, dass wir schon einen Termin in der Uniklinik haben, dass sie womöglich eine Leukämie hat, dass wir das jetzt weiter verifizieren müssen. Und sie hat das erstaunlich gefasst aufgenommen.
Und wir sind dann einfach los, weil wir wussten, dass mittags auch die Kinder aus der Schule kommen und wir wollten bis dahin fertig sein, um wenigstens so den ersten Schritt organisieren zu können.
Wie habt Ihr Eure Kinder in die Situation einbezogen?
Andreas Cramer:
Wir waren zu Hause. Wir haben, nachdem wir die ersten zwei Stunden in der Klinik verbracht haben und ein erstes Gespräch mit den behandelnden Ärzten hatten, die uns grob über das aufgeklärt haben, was jetzt auf meine Frau zukommt – sind wir zurück gefahren und haben auf unsere Kinder gewartet. Wir hatten schon damals sofort miteinander besprochen und das war uns ganz wichtig, und das hat sich wie ein roter Faden durch das ganze Jahr der Therapie hindurch gezogen, dass wir unseren Kindern von vornherein die Wahrheit erzählen wollten. Und darauf haben wir uns vorbereitet und haben gewartet, bis die Kinder aus der Schule kamen.
Wie haben die Kinder auf die Diagnose reagiert?
Andreas Cramer:
Kinder haben ein absolutes Gespür für die Krise und sie kamen rein und die beiden Großen merkten sofort, dass irgendetwas nicht stimmt. Und dann haben wir den dreien das erzählt, und da war natürlich ein großer Schreck und eine große Benommenheit. Eine große Trauer auch. Und das ist das, was man wissen muss, wenn man auch Kinder hat, dass man da vieles richtig, vieles falsch machen kann. Aber wichtig ist, dass man sich eben auch auf das Kind einlässt und die persönlichen Wünsche, Träume und ja, die eigenen Vorstellungen des Kindes auch wirklich versucht zu berücksichtigen. Da sind Kinder ganz unterschiedlich.
Wie haben die Kinder die Diagnose der Mutter verarbeitet?
Andreas Cramer:
Meine Tochter, die eine sehr rationale Persönlichkeit hat, hat wirklich zielgenau drei Fragen gestellt und war am Punkt: Mama schafft das und wir kriegen das alles hin.
Und mein erstgeborener Sohn, damals 13, hatte eine Persönlichkeit, der hat alles still in sich hineingefressen und da war es sehr, sehr schwer, an ihn ranzukommen. Der Mittlere war für mich auch als begleitender und dann fürsorglicher Vater die eigentliche Herausforderung.
Und der Drittgeborene, der war ja neun, der war noch richtig Kind, der situativ sehr traurig sein konnte, aber im nächsten Augenblick war er auch wieder fröhlich. Und jedem einzelnen dieser Charaktere letztendlich gerecht zu werden, war die echte Herausforderung.
Wie bist Du nach der Diagnose wieder handlungsfähig geworden?
Andreas Cramer:
In den ersten drei Nächten habe ich so gut wie nicht geschlafen und auch nicht gegessen. Man ist ja so im freien Fall. Und zwar deshalb, weil einem ja so das ganze Lebenskonstrukt plötzlich entzogen wird. Und ich hatte für mich das Bedürfnis, dass ich viele Dinge schnell für uns neu organisiere.
Und das erste, was ich gemacht habe, ist, dass ich für meine Kinder eine Haushaltshilfe organisiert habe. Wir hatten in diesem Jahr eine Zugehfrau, die wirklich regelmäßig gekommen ist, die mir hier den Haushalt gemacht hat, die für uns gekocht hat, die die Kinder angenommen hat, wenn sie aus der Schule rausgekommen sind.
Aber wir hatten auch eine Freundin, die Kinderpsychologin ist, die sich meiner Kinder angenommen hat, die Einzeltherapiegespräche geführt hat.
Ich persönlich habe mir auch professionelle Hilfe geholt. Auch ich hatte eine Psychoonkologin, die mich über das ganze Jahr sehr professionell begleitet hat, sodass ich immer dann, wenn auch ich für mich Krisensituationen hatte, denn man hat ja wirklich phasenweise wirkliche Existenzängste, mich aufgefangen hat und mir meine eigenen Grenzen und aber auch meine Perspektiven aufgezeigt hat. Und das war für mich auch sehr, sehr wichtig.
Wie hat sich die Einkommenssituation der Familie geändert?
Andreas Cramer:
In dem Augenblick, in dem Diagnose gestellt wurde, brach natürlich dieses ganze Konstrukt von jetzt auf jetzt wie in einem freien Fall zusammen. Denn es war ja so, dass meine Frau mehr oder weniger für ein Jahr in die Klinik eingezogen ist, sich um nichts mehr kümmern konnte und ich eben mich nicht nur um Familie, sondern auch um den Beruf kümmern musste. Und ich hatte dort einen Arbeitgeber, der sehr verständig war. Ich habe meine Arbeitszeit auf 80 Prozent reduziert, bin komplett aus Nacht- und Wochenenddiensten herausgegangen und habe meinem Arbeitgeber gesagt, dass ich eine gleitende Arbeitszeit haben möchte. Und darauf ist er eingegangen und da bin ich ihm sehr dankbar für. Und das hat auch sehr, sehr gut geklappt. Ich bin also gekommen und gegangen, wann ich wollte und habe meine Arbeitszeit so für mich organisiert, dass ich das alles einigermaßen unter einen Hut bringen konnte.
Hast Du als Mediziner auch Behandlungsempfehlungen an Deine Frau ausgesprochen?
Andreas Cramer:
Bei der Diagnose einer akuten Leukämie ist es heutzutage so, dass diese Erkrankung ja ganz bewusst in großen medizinischen Zentren behandelt wird, und die Mediziner nehmen den Patienten auf und bieten ihm einen bestmöglichen therapeutischen Weg. Und das ist Goldstandard heutzutage. Das ist weltweite beste Medizin. Und wir leben glücklicherweise in einer Gesellschaft, in der immer noch das Solidaritätsprinzip gilt. Und ein Mensch, der daran erkrankt, braucht sich nicht Sorgen zu machen, wie er versichert ist. Alle Menschen in dieser Erkrankung Situationen werden in Deutschland gleich gut behandelt, und auch für uns als Mediziner, und ich habe mich eigentlich weitestgehend das ganze Jahr über aus medizinischen Entscheidungen komplett rausgehalten, sondern habe mein Fokus gesetzt auf die Begleitung meiner Frau und die Versorgung meiner Kinder, aber die Mediziner bieten heutzutage den Patienten einen sehr effizienten Therapieweg an. Und das, was persönlich für meine Frau, aber auch für mich ganz wichtig und ganz gut war ist, dass wir keine Alternativen angeboten bekommen haben. Es gibt diesen einen therapeutischen Weg, der ermöglicht der Patientin, Hoffnung zu haben, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie langfristig wieder gesund wird, ist sehr groß. Aber sie muss sich nicht entscheiden. Und das ist heutzutage, glaube ich, sehr wertvoll, denn sehr viel schwieriger wäre es gewesen, wenn die Mediziner gesagt hätten, Ihr habt drei Wege und jetzt entscheidet euch. In so einer akuten Krisensituation der Diagnoseübermittlung wäre man dort als Patient, aber auch als Angehöriger komplett überfordert.
Wo bist Du an Deine eigenen Grenzen gestoßen?
Andreas Cramer:
Ja, die Grenzen werden einem immer dann bewusst, wenn man überfordert ist. Das kann in Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens sein, wenn der Umgang mit den Kindern nicht so klappt, wie man sich das vorstellt, weil man sowieso die ganze Therapie lang Kompromisse „fahren“ muss. Das können Kleinigkeiten sein.
Viel schwieriger ist es als Angehöriger oder als Partner, wenn die Therapie nicht so läuft, wie sie laufen soll und akute Krisensituationen im Rahmen der Therapieweges entstehen. Und da hat man dann wirklich auch als Angehöriger Existenzängste. Das geht bis hin zu Selbstmordgedanken. Und wenn man dann nicht jemanden hat, der einen auffängt und der professionell mit so einer Situation umgehen kann, dann kommen Menschen sicherlich in unüberschaubare Krisensituationen. Und da ist es meiner Ansicht nach sehr, sehr wichtig, dass auch Angehörige und eben nicht nur die Patienten selbst professionelle Hilfe bekommen.
Wie habt Ihr die Erkrankung an Euer Umfeld kommuniziert?
Andreas Cramer:
Mein Appell an alle Menschen, die diese Diagnose gestellt bekommen: ganz wichtig, frühestmöglich outen! Herumerzählen! Ich habe es klassisch gemacht. Ich habe der Bäckereifachverkäuferin an der Ecke gesagt: Pass auf, meine Frau hat Leukämie, erzähl es nicht weiter. Und dann hat es 48 Stunden gedauert und dann wussten es alle. Und man bekommt dann mal ein paar Tage lang lästige Anrufe, weil Menschen glauben, sich mit einem darüber unterhalten zu müssen und dann die onkologischen Geschichten der Nachbarn, der Freunde und der Freund des Freunde erzählen. Da muss man konsequent sein und muss das alles abwürgen. Aber ein Mensch vergisst auch schnell wieder. Und wenn der Reiz des Neuen weg ist und wenn es alle wissen, dann macht es irgendwann keinen Spaß mehr, darüber zu reden. Und das ist mittel- und langfristig im Umgang mit der Situation wertvoll.
Wenn man versucht, eine Diagnose vom sozialen Umfeld zu verstecken, dann brodelt das immer im Untergrund und da leiden auch die Kinder drunter, weil natürlich dann auf dem Schulhof hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird. Das erste, was ich gemacht habe Ich bin zu den Lehrern gegangen, habe ihnen davon berichtet, habe sie gebeten, ein Auge auf meine Kinder zu halten und habe ihnen die Erlaubnis gegeben, auch in den Klassen selbst von der Erkrankung meiner Frau über die ganze Klasse hinweg zu berichten, so dass innerhalb von zwei Tagen diese Diagnose auch im sozialen Umfeld meiner Kinder durch war. Und ich glaube, das war für meine Kinder eine große Erleichterung.
Welche Auswirkung hatte die Erkrankung auf Euch als Paar?
Andreas Cramer:
Natürlich ist so ein Jahr, was die Zweisamkeit angeht, ein sehr anstrengendes Jahr. Man muss dort auf vieles verzichten, man muss viele Kompromisse eingehen. Auf der anderen Seite ist es so, dass wenn man das schafft, so einen Weg gemeinsam zu gehen und auch erfolgreich zu gehen, dann festigt das ungemein eine Beziehung.
Und wir sind im Nachhinein, denke ich, was unsere Beziehung angeht, noch fester und besser aufgestellt, als wir vorher eh schon waren.
Wie ist der Gesundheitszustand heute?
Andreas Cramer:
Meine Frau gilt nach jetzt 5 Jahren als geheilt. Sie ist in der Nachsorge, das ist aber eine Routine Nachsorge.
Ein Mensch, der diese Diagnose bekommt, muss sich darauf einstellen, dass nicht unerhebliche seelische und körperliche Narben zurückbleiben werden. Meine Frau hat eine körperliche Leistungsfähigkeit von, na ich würde sagen maximal 70 Prozent dessen, was sie vorher hatte. Sie hat ein Augenlicht geopfert durch die Therapie. Aber das sind alles Kleinigkeiten, mit denen man sehr, sehr gut umgehen kann. Das Leben wird dadurch nicht weniger lebenswert und wir sind dankbar für die Situation, die sich heute so darstellt, wie sie ist.
Was hat immer wieder Kraft zum Durchhalten gegeben?
Andreas Cramer:
Mutmacher war eigentlich, dass ich meine Frau jeden Tag gesehen habe. Wir haben es damals so gemacht, dass ich jeden Tag eines der drei Kinder mit in die Klinik genommen habe. Also ich habe bis 14 Uhr gearbeitet, dann bin ich nach Hause gefahren, habe mit meinen Kindern Schulaufgaben gemacht und so ab 16, 17 Uhr haben wir uns dann aufgemacht in die Klinik und ich habe jeden Tag ein Kind mit in die Klinik genommen, sodass meine Frau auch wirklich regelmäßig Kontakt hatte und den Eindruck hatte, dass nicht alles über sie hinweg entschieden und auch gelebt wird.
Mutmacher war, dass wir alles miteinander versucht haben zu besprechen. Ich sie also auch in die Entscheidungsfindungen der täglichen Fragestellungen, ganz besonders auch im Umgang mit den Kindern immer versucht habe, mit einzubeziehen.
Und Mutmacher war bei uns, dass die Therapie sehr früh sehr erfolgreich angeschlagen hat und wir eigentlich immer das Gefühl hatten, das kann was werden.
Wie geht es Dir heute, fünf Jahre nach der Diagnose Deiner Frau?
Andreas Cramer:
Mir geht es sehr gut. Ich sehe Dinge viel gelassener, viel entspannter, viel konsequenter. Ich habe gelernt, egozentrisch auch für mich mal Nein sagen zu können. Das ist ganz wichtig. Ich habe gelernt, Hilfe anzunehmen, was ich vorher überhaupt nicht konnte. Denn das ist ein ganz zentraler Aspekt, wenn man Beruf eine kranke Frau und drei Kinder an der Backe hat, kann man nicht alles selbst schaffen, sondern man muss lernen, dankbar auch Hilfe anzunehmen. Und das habe ich in meine persönliche Lebensüberzeugung mit aufgenommen, und das hat mein persönliches Leben auch bereichert.
Awareness-Monat
Blutkrebs
Dieser Artikel ist ein Beitrag aus der Serie des Awareness-Monats „Blutkrebs“. Weitere spannende Interviews, Artikel und Talk-Sendungen finden Sie in der Übersicht zum Blutkrebs-Monat.
- coronavirus Leukämie (akut)
-
Mehr erfahren: