Von der Ärztin zur Patientin
Im Interview erzählt die erfahrene Ärztin und Psychoonkologin Dr. Monika Cramer, wie sie von der seltenen Form ihrer akuten Leukämieerkrankung (ALL) erfahren hat und wie sie mit der schlechten Prognose einer nur 30-prozentigen Überlebenschance umgegangen ist. Monika hat über 12 Monate im Krankenhaus verbracht und erhielt durch ihren Mann, ihre 3 Kinder und ihre Freunde jeden Tag aufs Neue Hoffnung, Mut und Lebensfreude geschenkt. Im Interview mit Stephan Pregizer beschreibt sie die lange Zeit mit den durchlebten Höhen und Tiefen des Krankenhausaufenthaltes sowie der anschließenden Reha-Maßnahmen und bedankt sich bei den anonymen Knochenmarkspendern, die ihr das Leben gerettet haben
Das Interview zum Nachlesen
Einleitung:
Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe unserer Interviewreihe „Ein Gespräch im roten Sessel“. Hier in Bad Kissingen treffen wir gleich Monika Cramer. Sie ist 50 Jahre alt, Mutter von drei Kindern und von Beruf Ärztin und ausgebildet in Psychoonkologie. Sie erhielt vor drei Jahren die Diagnose Leukämie, auch „Blutkrebs“ genannt. Monika Cramer hat auf beeindruckende Weise den Perspektivenwechsel von der Ärztin und Expertin hin zur betroffenen Patientin mit Krebs durchlebt und wird uns davon erzählen. Ihr Mann, ihre Kinder, die Familie und Freunde haben ihr ebenso Kraft gespendet wie das medizinische Team und die anschließende spezialisierte Reha.
Moderator: Jetzt hat sie Platz genommen im Garten der Reha-Klinik am Kurpark. Herzlich willkommen, Monika Cramer.
Monika Cramer: Vielen Dank.
Moderator: Monika, sei so lieb, erzähle uns doch deine Geschichte. Wie war dein Leben vor der Krebserkrankung?
Monika Cramer: Also mein Leben vor der Krebserkrankung würde ich als relativ sorglos bezeichnen. Wir sind schon lange verheiratet, nachdem die Kinder etwas größer geworden waren, bin ich wieder in den Beruf eingestiegen und habe als Psychoonkologin gearbeitet in einer Klinik. Und wir haben uns da perfekt ergänzt.
Moderator: Im Jahr 2015, habt ihr da konkrete Pläne geschmiedet?
Monika Cramer: Der konkreteste Plan war eigentlich die Kommunion von unserem Kleinsten. Das war geplant als großes Fest. Viele von den Verwandten, die eingeladen waren, sollten auch schon vorher kommen, am Freitag, bevor am Sonntag die Kommunion war, und haben dann traditionell bei uns übernachtet.
Moderator: Wie kam es dann genau zur Diagnose? Hast du irgendwelche Anzeichen gehabt, Beschwerden gehabt?
Monika Cramer: Ich hatte im Januar eine schwere Grippe. Und ich habe vorher eben sehr viel Sport gemacht, ich habe Ballett gemacht, ich bin geritten, ich bin regelmäßig gejoggt, auch lange Strecken, und habe dann irgendwann gedacht: „Na ja, jetzt im Februar ist es ja jetzt mal durch mit der Grippe und ich fange einfach mal langsam an“, und habe dann gemerkt, ich habe keine Luft. Aber an der Luft bin ich nie gescheitert. Und da habe ich schon gedacht: „Mhm, da stimmt was nicht.“ Mein Mann ist ja auch Arzt und da hat er gesagt, nimmt er einfach mal schnell Blut ab irgendwann. Und dann hat er die Röhrchen vergessen oder dann hatte ich keine Lust und dann war keine Zeit. Und das haben wir dann so ein bisschen hingeschoben, bis dann im März, kurz vor der Kommunion, also tatsächlich an dem Freitag, wo die ersten Gäste ankommen sollten, mein Mann gesagt hat: „So, heute früh nehmen wir jetzt das Blut ab, endlich.“ Da habe ich gesagt: „Ach, jetzt so vor der Feier ist vielleicht nicht so toll“, vielleicht hatte ich auch schon so ein bisschen eine leichte Ahnung, dass das nicht gut ausgeht. „Okay, na, jetzt machen wir es.“ Und dann war es so und ich war in der Küche, habe schon gekocht für die ganzen Gäste und alles vorbereitet. Und gegen Mittag kommt auf einmal mein Mann nach Hause, im Kittel, und sagt: „Monika, du hast Leukämie. Wir müssen sofort in die Klinik.“ Und da habe ich dann gedacht: „Puuh“, durchgeschnauft, Herd ausgestellt und wir sind dann gleich in die Klinik gefahren. Und der Professor im Gespräch, der hatte mir dann eröffnet, dass ich eben eine Form der Leukämie habe, eine akute Leukämie, lymphatische Leukämie, das heißt, die weißen Blutkörperchen betreffend, und dass diese Erkrankung, das hat er mich auch gleich gesagt, eine extrem schlechte Prognose hat und dass die Behandlung eine extrem schwierige Chemotherapie und Bestrahlung und alles, was gut und teuer ist, umfasst und dass ich nur eine Chance habe, wenn ich auch eine Knochenmarkspende bekomme.
Moderator: Ich würde normalerweise fragen: Wenn der Arzt einem die Diagnose eröffnet: „Sie haben Krebs“, jetzt war es nicht der Arzt, jetzt war es der eigene Mann.
Monika Cramer: Insofern macht es einen Unterschied oder hat es bei mir einen Unterschied gemacht, weil mein Mann so fertig war. Der war erschlagen. Und das hat es für mich extrem schwer gemacht. Hinterher dann bei dem fremden Kollegen, der mir das dann so „to, to, to“ eröffnet hat, war das für mich nicht so schwierig, weil es sachlich war. Und bei meinem Mann war es total emotional.
Moderator: Ich traue mich das fast nicht zu fragen, aber ich frage es trotzdem: Warst du auch ein Stück erleichtert, diese Diagnose nicht an deinen Mann geben zu müssen? War das eine Form von Erleichterung, dass er es dir gesagt hat?
Monika Cramer: Das würde ich schon so sagen. Ich würde sagen, es war für mich viel leichter, dass er es jetzt schon wusste und er es mir gesagt hat, als dass ich das umgekehrt hätte machen müssen. Das wäre für mich viel schwerer gewesen.
Moderator: Wie ist die Situation, wenn du vorher als Psychoonkologin oft von deinen Patienten eine Situationsbeschreibung erhalten hast, die genau das trifft, was du jetzt erlebt hast?
Monika Cramer: Also in dem Augenblick habe ich da, glaube ich, jetzt nicht an die anderen Patienten gedacht, sondern ich habe einfach nur gedacht: „Ups, jetzt hat es dich erwischt“, und: „Oh Mann, was machen wir jetzt mit der Kommunion von dem Kleenen?“ Wir haben uns entschlossen, es zu sagen, weil das waren ja alles unsere besten Freunde.
Moderator: Hat es dir möglicherweise Kraft gegeben, dass du deine Liebsten alle um einen Tisch hattest?
Monika Cramer: Also die Situation war natürlich schwierig und ich weiß auch, dass wir unseren Freunden und den Verwandten wirklich viel abverlangt haben. Das muss ich ehrlich sagen. Aber die haben das alle so toll gemacht, dass mir das wirklich geholfen hat, dass ich von Anfang an, also wirklich ja vom ersten Tag der Diagnose an das Gefühl hatte: „Da sind Leute, die sind für uns da, die kümmern sich“, und haben sich ganz viel Mühe gegeben, eben für unseren Jungen ein schönes Fest zu haben.
Moderator: Als du ein bisschen zur Ruhe gekommen bist danach, was waren deine Gedanken, bezogen auf die Diagnose, die dir der Arzt übermittelt hat?
Monika Cramer: „Klar, meine Überlebenschancen sind statistisch schlecht, weniger als 30 Prozent trotz aller Therapie.“ Aber dann habe ich mir auch gedacht: „Na ja, ich weiß ja nicht, bin ich bei denen vielen Prozent, die die Krankheit nicht meistern? Oder bin ich bei den paar, die es schaffen? Und das kann mir keiner vorhersagen. Ich werde diese Therapie, so wie sie mir vorgeschlagen ist, durchziehen. Und ich werde mein Bestes tun, um da durchzukommen. Ich kann es nicht ändern. Ich habe das bekommen, ich weiß nicht, warum. Letztendlich ist das für mich auch nicht zu klären und es ist auch nicht wichtig, weil eigentlich ist jetzt für mich wichtig, damit umzugehen, mit dieser Erkrankung umzugehen, mein Bestes zu tun, dass ich da vielleicht heil wieder rauskomme, weil ich denke, meine Kinder brauchen mich noch, mein Mann braucht mich. Wir sind eine tolle Familie und das wäre schade, wenn ich da nicht mehr dabei wäre.“
Moderator: Jetzt ist die Range bei einer Diagnose Leukämie relativ groß, du hast das beschrieben. Sie reicht von Beispielen wie José Carreras bis hin zu Guido Westerwelle. Hast du für einen Moment gedacht: „Was ist, wenn ich es nicht schaffe“?
Monika Cramer: Dass das eine extrem lebensbedrohliche Situation war, das war mir völlig klar. Und zum Glück hatten mein Mann und ich vorher alle Dinge eigentlich geordnet. Wir hatten eine Patientenverfügung, wir haben ein Testament gemacht, wir haben geguckt gehabt, wie es mit den Kindern wird, wenn uns beiden was passiert, und so weiter. Also das hat mir echt geholfen, weil ich habe gewusst: „Okay, es kann jetzt wirklich passieren. Das steht spitz auf Knopf.“ Und wenn ich noch ein paar Tage länger gewartet hätte, hätte ich wahrscheinlich gar keine Wahl mehr gehabt. Nach der Diagnose erfolgt ja sofort der Beginn dieser kombinierten Chemotherapie. Und zwar ist es dann ja so, dass dieses eigene Knochenmark, was man hat, was für die Blutbildung ja wichtig ist, stillgelegt wird, also gekillt wird, es ist nichts mehr da.
Moderator: Es wird runtergefahren?
Monika Cramer: Nein, es ist gar nichts mehr da, was die Blutbildung durch den eigenen Körper angeht, ist man vollkommen nackig. In meiner Form war es so, dass ich tatsächlich einen Menschen brauche, der bereit ist, mir sein Knochenmark zu geben oder ein Stück davon zu geben. Für mich war es ganz schwer, sozusagen das Vertrauen zu haben, dass sich jemand finden wird für mich. Weil man geht den Weg auf diesen Punkt hin, aber lange Zeit weiß man nicht: Wird da jemand sein? Wenn nämlich nicht, gibt es eine ganz kleine, rein theoretische Chance, dass man es vielleicht trotzdem irgendwie schafft, aber eigentlich nicht. Es ist aufwendiger für den Spender.
Moderator: Aber alles nicht vergleichbar mit der Situation des Empfängers.
Monika Cramer: Nein, natürlich nicht. Aber ich muss schon sagen, ich bin da unglaublich dankbar, dass sich da Menschen bereitfinden, das für völlig Fremde zu tun. Und ich muss das wirklich sagen, mir hat das das Leben gerettet, dass jemand da war. Und das war ein völlig Fremder. Ich weiß nicht, wer es war. Der weiß auch nicht, wer ich bin, ob ich eine Nette bin oder vielleicht gar nicht nett. Der hat das einfach so gemacht. Und ich bedanke mich da für jeden, der sich da auf diese Liste setzen lässt und bereit ist, ein Spender zu sein.
Moderator: Kannst du dich an den Moment erinnern, als du gedacht hast: „Jetzt schaffe ich das.“
Monika Cramer: Bei mir hat sich das ein bisschen hingezogen, weil kurz nach der Transplantation eigentlich mein Knochenmark nicht so gearbeitet hatte, wie es sollte. Dann hat es letztendlich noch mal fast ein halbes Jahr gedauert, bis diese Blutbildung eigentlich so war, dass man sagen kann: „Okay, jetzt kann ich nach Hause.“
Moderator: Welche besonderen Situationen hast du in Erinnerung aus der Zeit des Krankenhausaufenthaltes, also diesem einem Jahr Therapie?
Monika Cramer: Mein Mann ist eigentlich jeden Tag der Therapie bei mir in der Klinik gewesen. Und wir haben über die Zeit zum Beispiel einem Taubenpaar zugeschaut, das hatte ein Nest gebaut in einem dieser großen Fenster, die dort sind in der Klinik. Und wir haben zugeschaut, wie die da ihre Küken ausbrüten.
Moderator: Was hat dich Energie gekostet?
Monika Cramer: Dass ich schon gleich wieder als Psychoonkologin arbeiten musste, weil die anderen Patienten mir halt dann auch wieder ihre Sorgen, ihre Probleme angetragen haben. Und natürlich kann ich da nicht einfach da sitzen und sagen: „Geht mich nichts an, interessiert mich nicht. Ich habe meinen eigenen Problemen.“ Das war für mich schwierig. Und am schwierigsten war, ich hatte ein Mitpatientin vor der Transplantation, mit einer ähnlichen Diagnose wie ich, etwas jünger als ich, durch Zufall in ein Zimmer gekommen und haben uns einfach unwahrscheinlich gut vertragen. Haben einen langen Weg der Krankheit miteinander gegangen und dann ist sie leider verstorben. Und das war hart.
Moderator: Waren Menschen in deinem erweiterten Umfeld überfordert, mit der Situation umzugehen?
Monika Cramer: Ich glaube, ich war ein richtig schlimmer Anblick. Ich verstehe auch die Menschen, die damit nicht gut umgehen können oder nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, wenn jemand, der vor, was weiß ich, vier Monaten noch total gesund und fit aussah, plötzlich so aussieht und vielleicht auch ein bisschen so dieses Damoklesschwert über sich stehen hat: „Oh Gott, wie lange wird die noch leben?“ Umso mehr finde ich das toll, wenn Leute sich da bemühen und das schaffen.
Moderator: Inwieweit hat dich die Krankheit verändert.
Monika Cramer: Ich weiß jetzt mehr, dass meine Tage gezählt sind, wie auch immer. Kann sein, dass ich noch sehr lange lebe, kann sein, dass die Krankheit zurückkommt, ich weiß es nicht. Aber ich lebe jetzt tatsächlich die Tage bewusster. Und ich versuche, mir jeden Tag irgendwie einen Punkt zu nehmen, wo ich sage: „Das tut mir gut.“
Moderator: Welche Rolle spielt Reha nach einer Krebserkrankung?
Monika Cramer: Ich war hier in Bad Kissingen in der Reha und war wirklich in einem körperlich ziemlich desolaten Zustand. Ich habe tolle Angebote bekommen, viel Sport, habe Kontakt mit anderen Patienten gehabt, ja, aber wir haben nicht nur über Krankheit gesprochen oder: „Was hast du? Was habe ich?“, so ein bisschen Mut gemacht: „Mensch, lass doch mal die Perücke weg. Sieht doch toll aus, hast doch schon Haare.“ Ich habe für mich persönlich die Erfahrung gemacht, dass mir das sehr gut getan hat.
Moderator: Wenn ich deine Geschichte betiteln dürfte, würde mir der Titel einfallen „Perspektivenwechsel“. Du bist von der Ärztin und Expertin gewechselt zur Patientin und zur Betroffenen. Was ist das größte Learning in dieser, nennen wir es mal „Transformation“?
Monika Cramer: Dieses Ausgeliefertsein, sich in andere Hände zu begeben, das ist was, das ich jetzt so als Patient erlebt habe, gerade auch sozusagen, dieses eigene Leben im wahrsten Sinne des Wortes in die Hände eines anderen zu geben.
Moderator: Kontrollverlust?
Monika Cramer: Kontrollverlust, ja, Angst auch, ob der das wohl richtig macht, ob der das kann. Ich bin ein Patient, ich brauche Informationen. Und ich will die Wahrheit wissen und dann kann ich auch damit umgehen.
Moderator: Monika, wir sind am Ende unseres Interviews angelangt. Ich möchte mich bei dir auf das Allerherzlichste bedanken. Alles Gute und auf ein schönes Wiedersehen.
Monika Cramer: Ich bedanke mich.
- timer ca. 16 Minuten
- person Monika Cramer
- coronavirus Leukämie (akut)
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