Wenn jemand stirbt: Drei Wege für den Umgang mit Schicksalsschlägen
Ein Gastbeitrag von Ulrike Scheuermann
Dieser Moment, in dem die Zeit still zu stehen scheint: eine schwerwiegende Diagnose. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Schicksalsschläge können jeden von uns treffen – meist vollkommen unvorbereitet. Wir müssen trotzdem damit umgehen, sie aushalten oder überwinden, anstatt daran zu zerbrechen. Im besten Fall wachsen wir an ihnen. Aber wie?
Hannah hat im vorigen Jahr ihre Eltern kurz nacheinander an eine schwere Krankheit verloren, jetzt liegt ihr Mann im Sterben. Sie wird mit den zwei Kindern weitgehend auf sich gestellt zurückbleiben. Warum stößt ihr das alles zu? Wie soll sie das alleine schaffen?
In meinen zehn Jahren Arbeit im Berliner Krisendienst und in insgesamt 25 Jahren als Psychologin habe ich erlebt, wie unterschiedlich Menschen in Krisen reagieren. Eine sucht den Rückhalt bei Freunden oder Familie und lässt alles auf sich zu kommen, Schritt für Schritt. Ein anderer schaltet auf „Durchhalten“, hält sich akribisch an seinen Tagesplan und findet darin Halt. Und Hannah? Sie trauert noch um ihre Eltern, zugleich muss sie sich um ihren Mann und die Kinder kümmern. Aber Hannah weiß: Sie war schon immer eine Kämpferin. Als älteste von vier Kindern ist sie es gewöhnt, Verantwortung für andere zu übernehmen. Ihre Herausforderung ist nun, in dieser Zeit auch gut für sich selbst zu sorgen. Und sich Hilfe in ihrem Netzwerk von Freundinnen und Freunden zu holen.
Jede, jeder geht mit einem Schicksalsschlag anders um und hat dabei andere Herausforderungen. Sie können – so hart es klingen mag – auch eine Möglichkeit sein, als Mensch zu reifen und langfristig innere Stärke hinzuzgewinnen. Wie auch immer die Bewältigung aussieht, es gibt Hilfe und Halt, wenn die Not am größten ist.
Wenn geliebte Menschen sterben
Hannah hat jetzt viel zu tragen. Sie muss den Abschied von ihren Eltern innerlich abschließen, ihre Kinder bei der Trauer um die Großeltern begleiten und sich zugleich auf die Begleitung und den Abschied von ihrem Mann einstellen. Sie ist noch mit der Trauer beschäftigt. Wer geliebte Menschen verliert, dessen Leben verändert sich einschneidend.
Was tun, um durch die Trauer hindurchzugehen, anstatt sie zu verdrängen? Die Arten zu trauern sind so vielfältig wie die Menschen. Manche sehen sich immer wieder Fotos von den Familienreisen an. Sie gehen an Orte, wo man gemeinsam war: den Park, das Lieblingsrestaurant, den Spielplatz. Andere reden viel mit den wichtigsten Vertrauten – ein Bruder oder vielleicht die Freundin.
Unerwartete Gefühle gehören dazu
Hannah ist zwischendurch regelrecht neidisch auf die Sorglosen und Glücklichen um sie herum. An anderen Tagen ist sie gefühllos, dann wieder rastlos, und oft ist da auch Wut: Sie fühlt sich alleingelassen von ihrem Mann, der sich so plötzlich davonmachen wird. Während Trauer gesellschaftlich erlaubt ist, sind es viele andere Gefühle in einer Krise nicht. Dann kann es sein, dass man sich dafür schämt. Dabei sind Gefühle einfach da und man kann sie nicht einfach steuern. Es ist, wie es ist.
Kürzlich hat Hannah einer Freundin von ihrem Gefühlsdurcheinander erzählt und die hat verständnisvoll reagiert. „Lass alles zu“, hat sie gesagt. Das hat Hannah geholfen.
Die Zeit heilt alle Wunden?
Beim Trauern ist Zeit eine variable Größe. Jemand trauert intensiv ein Jahr und hat dann das Gefühl, abgeschlossen zu haben. Bei einer anderen entsteht die Trauer überhaupt erst richtig nach einem Jahr. Oft kommt die Trauer in Wellen, es kann eine Weile Ruhe herrschen und dann, scheinbar aus dem Nichts oder durch eine Erinnerung ausgelöst, taucht sie wieder auf. Bei der einen ist die Trauer nach zweieinhalb Jahren abgeklungen, bei jemand anders währt sie jahrzehntelang.
Auch wenn es bestimmte Vorstellungen gibt, wie lange jemand trauern darf oder sollte – das ist ein vollkommen individueller Prozess. Regeln helfen hier nicht. Akzeptieren Sie alles, was nach einem Verlust auftaucht, als normal und richtig. Wüten Sie, wenn Sie Wut empfinden, weinen Sie, wenn Sie traurig sind, reden Sie, wenn Sie erzählen wollen, schreiben Sie Tagebuch.
Es ist, wie es ist. Es gibt keine Regeln. Monate oder viele Jahre zu trauern ist genauso „richtig“ wie unerwartete Gefühle zu durchleben – Ärger, Ohnmacht, Schuldgefühle.
Was an schweren Tagen helfen kann
- Die Nähe zu anderen Menschen suchen: Verstecken Sie sich nicht. Die berühmte Decke über den Kopf macht es oft schlimmer. Der Spruch „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ stimmt und die stärkende und sogar gesunderhaltende Kraft sozialer Kontakte ist in vielen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. Sie müssen da nicht allein durch. Wer sonst im Leben nicht so viele Kontakte hat, kann die Telefonseelsorge oder einen Krisendienst anrufen. Es gibt Selbsthilfe- und Trauergruppen, es gibt Netzwerke. Solche Gruppen werden oft unterschätzt, aber die persönliche Begegnung ist etwas anderes, als in einer Social-Media-Gruppe zu chatten. Eine Umarmung, ein direktes Gespräch, die Nähe eines anderen Menschen kann zutiefst tröstlich und stärkend sein.
- Schreiben Sie Tagebuch: Die therapeutische Wirkung des Schreibens ist in vielen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. Was wir aufschreiben, ist raus aus dem Kopf. Schreiben wirkt entlastend, klärend, beruhigend, lindernd und sogar heilend. Wir gewinnen Abstand und kommen zur Ruhe, der Schmerz wird aushaltbarer, flaut sogar leichter ab.
- Eine widerstandsfähige Haltung entwickeln: Wenn wir fest daran glauben, dass wir eine Situation beeinflussen können, fühlen wir uns nicht mehr ausgeliefert. Den Schicksalsschlag können Sie nicht ungeschehen machen, den verlorenen Menschen nicht wiederbekommen, die Krankheit nicht wegmachen. Aber Sie können liebevoll und sorgsam mit sich umgehen, offen für Hilfe sein und dadurch mit weitaus mehr Kraft die für Sie richtigen Schritte gehen.
Bei vielen Menschen, die eine schlimme Krise überwinden, steht später die Erkenntnis im Vordergrund, etwas gelernt zu haben und daran gewachsen zu sein. Hannah zum Beispiel versteht heute, dass sie durch die Verluste entdecken konnte, wie sie nicht nur gut für andere, sondern auch für sich selbst sorgt. Ganz nach dem Motto: Wenn das Leben nicht dein Freund ist, ist es dein Lehrer.
Ulrike Scheuermann ist Diplom-Psychologin und Bestsellerautorin. Sie hilft Menschen, ihr Leben sozial verbundener und damit gesünder zu gestalten. Mit ihren Büchern, Vorträgen und Medienauftritten vermittelt sie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und wie jede und jeder sie für sich umsetzen kann. Nach ihrem Medizin- und Psychologiestudium hat sie den Berliner Krisendienst mit aufgebaut und dort zehn Jahre gearbeitet.
Ihre Seminare und Coachings finden in ihrer esencia-Akademie in Berlin und online statt.
Die Psychologin – Hilft: www.ulrike-scheuermann.de